Eine (leider nur zu) wahre Geschichte

 

Es war einmal ein reicher Mann. Ihr wisst schon, einer von denen, die hinter ihren Schreibtischen sitzen und mit Zahlen jonglieren.

Er hatte alles, was man sich nur wünschen kann: Geld, Häuser, Autos, Firmen.

Eigentlich hätte er glücklich sein müssen, doch er war es nicht.

Im Gegenteil: Er wollte immer mehr, kaufen, kaufen, kaufen, verkaufen, verkaufen, verkaufen.

Und wenn ihm etwas nicht mehr gefiel, dann warf er es einfach weg.

 

Es war einmal eine arme Frau. Ihr wisst schon, eine von denen, die aus einem Nachbarland kamen, weil dort Krieg herrschte. Sie heiratete und bekam zwei Kinder. Als sie gerade mit dem zweiten Kind schwanger war, wurde sie von einem Auto angefahren. Sie war lange Zeit behindert, und ihre Tochter wird níemals ein normales Leben führen können. Dann hat sie auch noch ihr Mann im Stich gelassen.

Eigentlich hätte sie unglücklich sein müssen, doch sie war es nicht.

Im Gegenteil: Sie war so voller Lebensfreude, dass sie alle anderen damit ansteckte. Und sie hatte eine Arbeit, mit der sie nicht nur ihre beiden Kinder und sich selbst ernähren, sondern auch die teuren Therapien für ihre Tochter zahlen konnte.

 

Und wie die Mutter mit dieser ansteckenden Lebensfreude gesegnet war, so hatte ihr Sohn die Gabe, den Menschen zu helfen, er sah, was ihnen fehlte. Deshalb wollte er Arzt werden.

 

Doch eines Tages kaufte der reiche Mann den Laden, in dem die Mutter arbeitete. Und der Laden ging schlechter und schlechter, und schließlich, sei es aus Unfähigkeit oder Verblendung, sperrte der reiche Mann den Laden zu. Und alle verloren ihre Arbeit.

Der Sohn konnte sein Medizinstudium nicht fortführen, denn nun musste er nicht nur für sich, sondern auch für seine Schwester sorgen. Und für seine Mutter, die keine Arbeit mehr bekam – angeblich war sie zu alt dafür. Trotzdem wollte er den Menschen helfen und wurde Krankenpfleger. Also, na ja, Hilfskrankenpfleger.

 

Da geschah es, dass der schwer reiche Mann schwer krank wurde. Doch selbst die teuersten Ärzte nutzten ihm nichts. Der junge Hilfskrankenpfleger aber sagte zu ihm: „Ich weiß, was dir fehlt, und ich würde dir ja gerne helfen, aber ich darf nicht. Ich bin kein Arzt. Das Medizinstudium konnten wir uns nicht mehr leisten, als der Laden, in dem meine Mutter gearbeitet hatte, zugesperrt hat. Damals, kurz vor Weihnachten 2015.“

 

 

Und so wünsche ich mir, dass all die reichen Männer da draußen erkennen, was sie denen schuldig sind, deren Arbeit sie ihren Reichtum verdanken: nämlich Respekt, Menschlichkeit und Verantwortung. Denn sie haben es in der Hand, ob sie Existenzen zerstören – oder aber Existenzen sichern. Und ich wünsche mir, dass Menschlichkeit und Nächstenliebe wieder wichtiger werden als Profit, Zusammenarbeit wichtiger als Konkurrenz, und dass die Welt, in der wir leben, auch für kommende Generationen wieder ein lebenswerter Ort wird.

 Luitbald der Fadenrîhe, Dezember 2015

 

(Alle Rechte vorbehalten; unentgeltliche Weitergabe durch Dritte unter Wahrung des Urheberrechts gestattet. Kommerzielle Nutzung bedarf der Genehmigung des Autors.)